Heute ist mein 100. Tag, seit ich Deutschland verlassen habe und als digitaler Nomade / location independent unterwegs bin. Ich bin zwar kein Politiker, aber der Titel klingt so schön. Deshalb ziehe ich heute eine erste Bilanz in Form eines Selbst-Interviews. Ich rede sonst aber nicht mit mir selbst, zumindest nicht mehr als in Berlin schon.

Wo war ich?

  • China: Guangzhou, Taishan, Xiamen, Shanghai, Hangzhou, Beijing
  • Thailand: Chiang Mai, Bangkok
  • Laos: Vientiane

Was ist gut?

Freie Zeit für mich, tägliche, unvorgesehene Euphorie-Anfälle (z.B.: „Ich habe gerade ohne ein Wort Englisch Essen gekauft! Auf der Straße, in Thailand, wo ich wohne, wo ich mit meinem Motorroller rumdüse, wo ich auf den Berg fahre und im Tempel spaziere, wo ich Snooker spiele und bowlen gehe, wo ich mit Couchsurfern saufe, wo ich hervorragenden Live-Blues höre, wo ich Thai lerne…“ Ihr kriegt einen Eindruck, denke ich.)

Meine Arbeit läuft wunderbar. Meine Kunden merken kaum einen Unterschied, Skype funktioniert, mein Onlineshop wächst, weil ich viel Zeit investiere, das Geld reicht, weil hier alles so günstig ist.

Ich mache seit Anfang Mai 4-5 pro Woche Krafttraining. Ich fühle mich sehr fit, das Essen macht nicht fett, ich bin gut in Form und es wird besser. Ich komme mit der Hitze ganz gut klar, was auch damit zu tun hat, dass sie nachgelassen hat.

Ich liebe es, mit dem Motorroller durch die Stadt zu brettern. Ich werde definitiv in diesem Leben einen Motorrad-Führerschein machen!

Ich fühle mich frei wie ein Vogel. Ich kann innerhalb von 30 Minuten meine Sachen packen und irgendwo hinfahren.

Was ist nicht gut?

Nicht viel. Keine große Überraschung, aber tatsächlich wahr: Euphorie ist ein knappes Gut, egal, was du tust. Auch hier habe ich Normalität, Langeweile, Traurigkeit / Melancholie, Ärger, Müdigkeit. Das hat nichts mit äußeren Umständen zu tun, sondern wie ich damit umgehe. Das ist eine heilsame Erfahrung: Diese Gefühle und Zustände werden ein Leben lang da sein, gehören zum Leben dazu, sind das Salz in der Suppe, also sage ich ja dazu und lerne damit umzugehen.

Was habe ich gelernt?

Bewusst gelernt habe ich zwei Sprachen: Ich belege seit drei Wochen einen Thai-Kurs und kann jetzt im Restaurant auf Thai bestellen und auch sonst ein paar Basics. Der Kurs ist zwar viel zu intensiv (5x die Woche 2 Stunden), aber etwas bleibt hängen und es ist nützlich. Aber vor allem wird mein Englisch immer besser. Natürlich spreche ich mit den meisten Leuten englisch, viele davon Muttersprachler aus den USA oder Großbritannien. Ich denke nicht mehr in deutsch, wenn ich Englisch spreche. Ich weiß nicht, wann ich den Schalter umgelegt habe, aber jetzt ist es so. Ich kann mich so gut wie vollständig auf Englisch ausdrücken und das gefällt mir.

Was habe ich gemacht?

Vor allem habe ich Alltag in zwei Ländern erlebt. In China war ich noch eher Tourist, auch wenn ich nur in größeren Städten war und von der Natur nicht viel gesehen habe. In Thailand bin ich seit zwei Monaten, seit ein paar Wochen fühlt es sich hier ein bisschen wie zu Hause an. Ich kenne mittlerweile ein paar Leute, mit denen ich Ausflüge mache, am Wochenende feiere, eigentlich genau so wie in Berlin. Und interessanterweise fühle ich jetzt langsam den Drang, weiter zu ziehen, weil sich mein Leben hier schon wieder so normal anfühlt. Ihr denkt bestimmt alle, ich hab hier dauern Abenteuer, aber mein Alltag sieht relativ normal aus: Ich stehe auf, mache Sport, esse Frühstück, trinke Kaffee, gehe zum Thaikurs, esse mittag, arbeite bis zum Abend und dann mache ich irgendwas mit Leuten aus dem Thaikurs oder aus der Couchsurfing-Ecke. Am Wochenende Ausflüge und Halligalli. Es ist hier wärmer, das Essen ist anders und der Ausflug besteht dann darin, einen Elefanten zu reiten, aber ansonsten näher an der Berliner Realität als gedacht.

Hier eine kurze Liste der touristischen Highlights:

  • chinesische Mauer besucht
  • Skywalk in Shanghai
  • Billard-Turnier in Bangkok
  • Songkran-Fest in Chiang Mai mit 2tägiger Wasserschlacht
  • Ausflug an einen Staudamm in der Nähe von Chiang Mai
  • Motorroller-Trip zum Tempel auf dem Berg Doi Suthep
  • Zoo von Chiang Mai besucht
  • Elefanten geritten, Orchideen-Farm, Wildwasser-Rafting, Bambus-Floß und im Wasserfall baden, alles an einem Tag
  • Champions-League-Finale in einem englischen Pub geguckt und erstaunt gewesen, dass die Hälfte der Engländer für Bayern ist

Für über drei Monate ist das gar nicht mal viel. Daran sieht man, dass ich kein Tourist bin, sondern ein „normales“ Arbeitsleben führe, nur eben woanders. Ich habe viel erlebt, was mit meinen Projekten zu tun hat. Habe viel für meinen Billard-Shop gearbeitet und für meine Kundenprojekte.

Doch das eigentlich Highlight ist der Alltag: leckeres Curry mit Reis oder Mangoshakes am Straßenstand kaufen, einen orange gewandeten Mönch mit Sonnenschirm auf der Straße sehen, im Motorroller-Wahnsinn mitschwimmen und nicht im Weg sein, der einzige Westler in einem Reisebus sein, in Bangkok oder Shanghai mit der U-Bahn fahren und angeglotzt werden wie ein Außerirdischer, Dokumentarfilme im kürzlich eröffneten „Documentary Arts Asia“ zu schauen und an jeder Ecke leckeren Kaffee zu trinken.

Mit welchen Themen habe ich mich beschäftigt?

Ich habe viel gelesen, zum einen zur Unterhaltung, aber auch zum Thema Weiterentwicklung. Hier meine wichtigsten Bücher der ersten 100 Tage (Disclaimer: die Links sind Partner-Links zu Amazon, ich bekomme 5% Provision):

  • The Millionaire Fastlane. Ganz hervorragendes Buch über den schnellen (nicht einfachen) Weg zum Wohlstand. Inspiriert mich sehr, mit dem reich werden nicht bis 60 zu warten.
  • You Are your Own Gym: Ein Fitness-Programm ohne Geräte. Perfekt zum Reisen mit wenig Besitz. Ich mache es seit 5 Wochen und fühle mich fit und kräftig, und das mit nur 30-40 Minuten Training 4x / Woche.
  • No More Mr. Nice Guy: Ein Buch über die persönliche Entwicklung vom „nice guy“ zu einem Mann, der sein Leben lebt, wie er es mag. Kein Arschloch-Programm, sondern ein richtig gutes Buch zur vollen Selbstentfaltung für Männer.

Was macht die Reise mit mir?

Ich bin offener Unbekannten gegenüber. Wenn ich mit jemanden sprechen möchte oder sogar Leute kennen lernen, muss ich Leute ansprechen, sonst passiert nichts. Und es macht mir Spaß und funktioniert. Ich vermisse Berlin nicht; ich vermisse meine Freunde. Die Welt ist groß, und in erstaunlich kurzer Zeit habe ich mich dahingehend verändert, dass ich mir ein Leben an vielen Orten vorstellen kann. Ich könnte ohne weiteres ein paar Jahre in Chiang Mai bleiben, wenn mir denn generell nach Bleiben wäre. Gleichzeitig kann ich mir gut vorstellen, wieder nach Berlin zu kommen. Ist schon ’ne verdammt gute Stadt, und vielleicht ist eine Funktion meines Trips, Berlin wieder mehr zu schätzen. Ich war nämlich echt satt von der Stadt.

Ich bin mir sicher, dass ich im Herzen immer ein Globetrotter / Kosmopolit war. Ich habe nur den Arsch nicht hoch bekommen. Jetzt bin ich unterwegs und es fühlt sich so natürlich und passend an, als hätte ich nie etwas anderes gemacht.

Komme ich zurück?

Wo ist zurück? Die Frage muss lauten: Werde ich je wieder sesshaft sein? Ich denke ja. Aber ich werde immer bereit sein, meine Sachen zu packen und zu reisen. Und zwar viel mehr als bisher und mit weniger Anlauf. Wo würde mich mich wieder dauerhaft aufhalten? Ich nehme an, dass es in der westlichen Welt sein wird. Ich finde es spannend, in einer fremden Kultur wie Thailand oder China zu sein, aber ich fühle mich trotzdem auch sehr fremd. Ich denke, ich bin tief drin Europäer. Ich bin gespannt, wie ich Berlin / Deutschland empfinde, wenn ich das erste mal wieder da bin. Ob ich mich weiterhin so zugehörig fühle oder vielleicht doch fremder als gedacht. Und wer weiß, wenn ich länger unterwegs bin in heute noch sehr fremden Kulturen, fühle ich mich dort sicher auch komfortabler als vorher. Mein Herz hängt noch sehr an Berlin, intuitiv habe ich in Sachen Sesshaftigkeit nur Berlin vor Augen. Aber ich bin ja noch nicht lange weg. Und Teil meines Trips ist ja nicht nur das Reisen, sondern auch, extrem wenig zu besitzen. Und das kann ich auch für eine längere Zeit an einem Ort machen. Ich kann mir vorstellen, in Berlin / Deutschland zu leben und so wenig zu besitzen wie jetzt. Mir fehlt nichts, nichts, nichts.

Was kommt als nächstes?

Ganz konkret als nächstes werde ich im Juli mit Matthias nach Malaysia reisen, dort ein paar Wochen bleiben und dann wahrscheinlich auf die Philippinen weiterziehen. Im Winter dann ein Besuch in der Heimat und im nächsten Jahr die Amerikas. Aber das ist alles noch ganz ungefähr.

Bin ich einsam? Warum oder warum nicht?

Nein, bin ich nicht. Ich bin schon immer gut mit mir alleine klargekommen. Ich habe einen guten Teil der letzten sieben Jahre mit mir alleine verbracht, da ich ja den ganzen Tag alleine arbeite. Das liegt mir und passt zu mir und führt dazu, dass ich mich auf dieser Reise kaum einsamer fühle als vorher. Das heißt nicht, dass Ihr mir nicht fehlt! Ich erlebe hier so geile Sachen und hätte meine Freunde gerne dabei, das zu teilen.

Ein unglaublicher Vorteil ist, dass es so einfach ist, in Kontakt zu bleiben. Telefon, Skype, Email, Facebook, ich kommuniziere mehr mit Euch als vorher! Das ersetzt keine gemeinsam verbrachte Zeit, aber macht es wesentlich weniger schlimm als gedacht.

Welche Teile meiner Ausrüstung sind nützlich, welche brauche ich nicht?

Fast alles. Mein Computer ist fantastisch, mein Smartphone ist sehr nützlich auf Reisen (Maps, Translator), meine Mini-Lautsprecher, mein iPod, mein eReader, meine Kamera, mein kleiner Rucksack. Mein Queue habe ich ja auch dabei, was nett ist, wenn ich Billard spiele, aber es ist seltener in Gebrauch als gedacht. Also vom radikalen Konzept „wenig Besitz“ her ein überflüssiges Teil, aber wenn ich es brauche, bin ich froh, dass ich es habe.

Was fehlt mir, was fehlt mir nicht?

Meine Erlebnisse und diese andere Umgebung mit engen Freunden zu teilen fehlt mir schon. Ich bin hier mit Menschen zusammen, die echt interessant und nett sind, aber das ist bei weitem nicht das gleiche wie mit engen Freunden. Um so mehr freue ich mich, bald mit Matthias herumzureisen!

Materiell fehlt mir tatsächlich nichts. Es ist nett, mehr Klamotten und Schuhe zu haben, ich mag Möbel, aber diese Dinge fehlen mir überhaupt nicht. Im Gegenteil, es ist ein fantastisches Gefühl, jederzeit meine Sachen packen und reisen zu können. Man muss nur damit klar kommen, dass man eine große Gemeinsamkeit mit den meisten Menschen aufgibt, nämlich einzukaufen. Ich laufe über Märkte und durch Shopping Malls und bin komplett unbetroffen vom Angebot, ja, vom gesamten Konzept und Zweck der Sache. Und wenn ich etwas kaufe, dann sehr bewusst. Interessante Erfahrung.

In Chiang Mai fehlt mir ein guter Billardsalon der Art, wie ich sie in Bangkok gefunden habe. Das hätte ich gerne mehr. Ich spiele hier höchstens mal Snooker oder auf einem englischen Pool-Tisch, einem unwürdigen Bastard aus Pool- und Snookertisch. Ich freue mich daher schon auf meinen nächsten Bangkok-Trip inklusive 10-Ball-Turnier, Kuala Lumpur im August und danach die Philippinen. Wenn von Euch jemand nach Thailand auswandern und ein Geschäft aufbauen möchte: Chiang Mai braucht einen ordentlichen (Pool-)Billard-Salon!

Wie sicher fühle ich mich? Wie planbar / unplanbar ist meine Zukunft?

Das war die große Frage vor meiner Abreise: Werde ich weiter Aufträge haben? Werde ich am Ende der Weit plötzlich finanziell auf dem Trockenen sitzen? Werde ich innerlich die Bodenhaftung verlieren und ziellos durch die Welt vagabundieren? Nichts davon ist bisher eingetroffen. Ich mache die gleiche Arbeit für die gleichen Kunden, ich komme hier gut über die Runden und fühle mich genauso fest in meiner Identität, wie ich es vorher getan habe. Natürlich verändert mich der Trip, aber nur dahin, wo ich will. Ich habe viel Zeit zum Lesen, um Dinge auszuprobieren, ich lerne täglich neue Leute kennen und werde offener und geselliger.

Ich fühle mich kein bisschen weniger sicher als vorher. Eher sicherer / zuversichtlicher, da ich mit Volldampf an meiner persönlichen Weiterentwicklung und an meinen beruflichen Projekten arbeite. Wobei sicherer eigentlich der falsche Begriff ist, da Sicherheit im Sinne von Planbarkeit oder Risikofreiheit an Bedeutung verliert. Flexibilität und Möglichkeiten sind die Dinge, die mich interessieren, und davon gewinne ich mit dieser Lebensform gewaltig.

Wozu bin ich unterwegs?

Das war eine der ersten Fragen, die ich mir nach meiner Abreise gestellt habe. Fast ein Jahr lang war diese Reise das einzige Ziel, auf das alles hinauslief. Meine Motivation war: Klingt interessant, ich habe noch nie woanders gelebt, und ich kann es machen. Also los! Doch als ich dann unterwegs war, habe ich mich schnell gefragt: Wozu mache ich das eigentlich? Wo geht es hin? Was will ich erreichen, erfahren, bezwecken? Diese Frage beschäftigt mich permanent. Nicht so sehr in den letzten Wochen, da ich zeitlich ziemlich ausgelastet bin mit Sprachkurs, Arbeit und neuen Bekanntschaften, aber in den Wochen davor und bald wieder bestimmt. Ich weiß, dass meine beruflichen Projekte in den nächsten Jahren eine sehr große Rolle spielen werden. Und dafür passt diese Lebensform von großer Flexibilität und Mobilität ziemlich gut. Für alles andere, Freunde und Familie, weiß ich noch nicht, wo die Reise (im metaphorischen Sinne) hingeht. Ich halte Euch auf dem Laufenden. Jedenfalls sind die ersten 100 Tage wie im Flug vergangen und sind doch unglaublich voll gewesen. Ich freue mich auf die nächsten 100 und bin mir ziemlich sicher, dass es nicht die letzten sein werden.